Stark abstrahiert, in die Fläche eines ungerahmten Gevierts gezwängt, schweben ephemere und nur vage identifizierbare Gesichter vor einem raumlosen grellgrünen Grund. Weiblich dürften sie sein, diese aus der ‚Diffusität’ aufscheinenden Antlitze. Vergeistigt, verschleiert, vernebelt mutet ihre Gegenwart an wie Schemen der Erinnerung. Losgelöst von der Physis, lenkt ihre Betrachtung auf tiefer liegende Schichten des Seins – die Illusion körperlicher Präsenz ist aufgegeben zugunsten einer immateriellen Gestalt. Dies erlaubt dem Visavis im Figürlichen die Veranschaulichung von Empfindungen, vielleicht sogar von Seelenzuständen gewahr zu werden.
In Motiv und Gestaltung schöpfen die Gemälde aus dem biographischen Gedächtnis der Künstlerin, ohne dem Aussenstehenden Aufschluss über spezifische Gegebenheiten oder Inhalte zu geben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bleiben die Werke unergründlich und rätselhaft. Sobald die Betrachterinnen und Betrachter sich von einem kausalen ‚Erklärungszwang’ loszulösen vermögen, lassen diese Chiffren ein Eintauchen in eigenes, individuelles Erinnern zu. Das Werkverständnis führt von unbeteiligter Ansicht zu privater Einsicht – erst in einer solchen Anteilnahme ist eine persönliche Aneignung dieser hermetischen Bildzeichen möglich.
Der Porträt-Serie gegenübergestellt sind grossformatige Gemälde, gekennzeichnet von irisierendem Leuchten. Sie sind in Schichten von unterschiedlichen Malmaterialien aufgebaut, ändern ihr Aussehen bei wechselnden Lichtverhältnissen und geben zu immer neuen Entdeckungen Anlass. Was sich zuerst als Fläche präsentiert, öffnet sich bei genauem Hinsehen zu einem scheinbar entgrenzten Tiefenraum. Wichtiger Bestandteil dieser Farbkammern sind Schriftgespinste, welche sich mehr oder weniger deutlich als Zwischenschicht einschieben und der malerischen Abstraktion die Andeutung einer konkreten Aussage entgegensetzen. Die Illusion einer mit Graffiti-Texten überzogenen Wand entsteht, die Assoziation einer bleiernen ‚Speicherplatten’ wird geweckt. Jedoch nicht enthüllend, sondern verschweigend ist die hier eingeflochtene Sprache. Kein Entziffern ist möglich, solche unentschlüsselbaren Codes sind Garant für die Qualität der Werke von Nesa Gschwend, indem sie zu unbegrenzten Lesarten stimulieren.
Die Gemälde speichern vielfältige, für die Betrachter nicht nachvollziehbare Vorstellungen der Künstlerin. Sie reflektieren Erkenntnisse ihrer Jahrzehnte langen professionellen Beschäftigung mit unterschiedlichsten Medien sowie ihre vertiefende Auseinandersetzung mit der Kunst bedeutender Vorläufer und Zeitgenossen. Erwähnt sei hier nur ihre jüngste Thematisierung der Bedeutung von Gelb in den Werken des 1890 verstorbenen Vincent van Gogh: Nicht imitierend nähert sich Nesa Gschwend dem malerischen Genie des Schöpfers der weltberühmten Sonnenblumen an, sondern forschend. Es gilt, losgelöst vom Gegenstand, die Kraft des van Gogh’schen Farb-Furors in zeitgenössische Malerei zu übersetzen. Die Hommage an den Künstler gipfelt in der künstlerischen Materialisierung von Licht und Oszillation.
Die Relativität des sich in der Welt der Erscheinungen offenbarenden absoluten Seins ist ein philosophischer Kern-Aspekt in Nesa Gschwends Œuvre und findet in den gegenständlichen wie abstrakten Kompositionen seinen Ausdruck. Das Aufspüren der Lebensenergie einer Person in ihrem einmaligen Gepräge und das Festmachen von stimmungsbeeinflussenden Umgebungsimpulsen sind für die Künstlerin Ausgangspunkt theoretischer Auseinandersetzung und münden in einen malerischen Entdeckungsgang.
Die Arbeiten von Nesa Gschwend und Verena Kälin-Squaratti fokussieren auf sehr individuelle und vielfach variierte Weise die Ambivalenz von Wahrnehmung und deren Darstellbarkeit. Zum einen ergründen sie in ihren gemalten, beziehungsweise dreidimensional gestalteten Köpfen die sich im menschlichen Antlitz manifestierende Wesenheit. Zum andern ist ihnen beiden die Recherche räumlicher Gegebenheiten eigen, welche hier – in ihrer jeweiligen künstlerisch gesteigerten Wiedergabe – entweder zur optischen Erkundung eines rätselhaft-abstrakten Wand-Graffito oder zur Entdeckung eines schalkhaft-spielerischen ‚Schattenriss’-Kabinetts einladen.
Gabrielle Obrist